Tallinn Talks: 30 Jahre Mauerfall und Baltische Kette
Am Abend des 18.11.2019 lud die deutsche Botschafterin, Christiane Hohmann, einige Schüler des Tallinna Saksa Gümnaasiums (TSG) sowie einige weitere interessierte Gäste ein, um einen Abend lang im Rahmen des „Tallinn Talks“-Formats den Mauerfall und auch die estnische Singende Revolution, die ja nun beide 30 Jahre zurückliegen, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: aus dem von vier Zeitzeugen.
Zu diesem Zweck wohnten der Veranstaltung zwei Esten und ehemalige Abgeordnete des EU-Parlamentes sowie zwei Deutsche, ebenfalls eine ehemalige Abgeordnete des EU-Parlamentes und ein Professor der HMKW-Hochschule in Berlin, bei. Bei diesen Gästen handelte es sich um Marju Lauristin, Indrek Tarand, Gisela Kallenbach und Professor Roland Freytag.
Ihre eigene Perspektive auf die damaligen Ereignisse, aber auch die Rolle, die sie selbst in diesen spielten, erläuterten die Gastredner zuerst, manche mehr und manche weniger ausführlich, in einem „Talk-Show“-ähnlichen Format, wobei die deutsche Botschafterin das Gespräch leitete.
Danach fand eine kleine Fragerunde statt, um die drängendsten Fragen des Publikums direkt zu beantworten. Danach wurden diese Themen bei einem Imbiss ausführlich weiter diskutiert und vertieft. Prominente Themen stellten während der Diskussion sowie während der ursprünglichen Reden, nicht nur die Frage nach den tatsächlichen Ereignissen des Jahres 1989 dar, sondern auch die Auswirkungen der Ereignisse auf unser heutiges Leben. Auch wurden die damals unterlaufenen Fehler thematisiert oder die damaligen Ereignisse mit der heutigen Protesten, etwa der Klimaschutz-Bewegung „Fridays for Future“, verglichen.
Interessant war, dass die meisten der Zeitzeugen erzählten, dass sie damals nicht wirklich mitbekommen hatten, was sie bewirkten. Die estnische ehemalige EU-Abgeordnete, Marju Lauristin, behauptete sogar, dass die damalige Sowjetunion zum Zeitpunkt der Singenden Revolution kaum mehr als eine eingerostete Maschine dargestellt habe, deren sich die Protestierenden nur noch entledigen mussten. Indrek Tarand vertrat hierbei einen anderen Standpunkt. Er erläuterte, dass damals eine angespannte Stimmung geherrscht habe und dass die Menschen gespürt hätten, dass sie entweder die Sowjetunion stürzen oder für immer in ihr „gefangen bleiben müssten“.
Auch die beiden deutschen Redner hatten Unterschiedliches beizutragen: So erzählte Gisela Kallenbach von der Wichtigkeit der Kirche innerhalb der deutschen Freiheitsbewegung. Sie sagte, die Kirche, insbesondere die lutheranische Kirche, habe zu Sowjetzeiten einige Privilegien genossen, so beispielsweise das Recht der freien Versammlung. Dies wurde von den unzufriedenen Bürger genutzt, indem sie sich für Diskussionen und Friedensgebete, die sich später zur Freiheitsbewegung ausweiteten, viele Jahre lang in den Kirchen versammelten. Professor Freytag verdeutlicht, dass die Freiheitsgewinnung nur durch die unglaublichen Menschenmassen und das unabhängige, aber dennoch gemeinsame und gleichzeitige, Agieren der verschiedenen Proteste an vielen verschiedenen Orten ermöglicht werden konnte. Einzelne Proteste wären gewaltsam niedergeschlagen worden, wie beispielsweise am Tiananmen Platz.
Betont wurde auch von allen Beteiligten, dass Proteste immer nur der erste Schritt auf dem Weg zur Änderung seien, danach müsse noch viel Arbeit geleistet werden, um die Errungenschaften der Proteste in der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen zu festigen. Denn ein Wandel der Gewohnheiten der Gesellschaft passiere nicht über Nacht, sondern sei ein langer und qualvoller Prozess. Im Kontrast dazu steht der tatsächliche Mauerfall, der, wie Freytag betont, wirklich über Nacht geschehen und tatsächlich eher ein Unfall als ein geplantes Ereignis gewesen sei. Denn die Medien und Menschen hätten eine Lockerung des Ein- und Ausreisegesetzes als „Auflösung“ der Mauer misinterpretiert und das Volk sei aus Freude und Aufregung zur Grenze geströmt.
Diskutiert wurde auch, inwieweit diese, eventuell überstürzte, Wiedervereinigung auch zur Spaltung beitrug, die es bis heute zwischen Ost- und Westdeutschland zu geben scheint. Angesichts der wachsenden Angst der Esten vor Russland und der Klimaprobleme, raten die Redner zu einer erneuten gegenseitigen Annäherung der baltischen Staaten, um die wachsende Entfremdung zu stoppen. Denn nur gemeinsam könnten die baltischen Staaten wirklich stark sein.
Im Groβen und Ganzen war der Abend sehr informativ und aufschlussreich, nicht nur im historischen Sinne, sondern auch im Bezug auf unsere heutige Gesellschaft.
Hannah Dentz, 11a
Fotos: Diana Unt