Bundesfreiwilligendienst – Anna Klostermann spricht im Interview über ihre Erfahrungen in Estland
Im Rahmen des kulturweit-Programms sind Anna Klostermann und Thekla Funke im September 2017 ausgereist und leisten für 12 Monate ihren Freiwilligendienst in Estland. Im Interview sprechen sie über Ihre Eindrücke und Erfahrungen am Tallinna Saksa Gümnaasium und Kadrioru Saksa Gümnaasium.
Nach einigen Monaten hier: Was habt ihr erlebt? Macht ihr neue Erfahrungen, habt ihr das Gefühl ihr habt Euch verändert?
Thekla: Neue Erfahrungen mache ich definitiv. Aber ich denke für uns hat sich nicht so viel geändert. Wahrscheinlich auch, weil wir weiterhin in einem europäischen, westlichen Umfeld sind und in einem Land, dessen Kultur unserer sehr ähnlich ist. Daher erleben wir sicher nicht so viele Veränderungen, als das zum Beispiel in einem asiatischen Land der Fall wäre.
Anna: Ich mache auf jeden Fall neue Erfahrungen, zum Beispiel auch das erste Mal alleine zu wohnen oder so lange von der Familie getrennt zu sein. Ich denke schon, dass wir uns verändert haben. Auch wenn es uns momentan noch nicht bewusst ist und wir es vielleicht erst merken, wenn wir nach Deutschland zurückgehen.
Thekla: Ich würde das ehrlich gesagt nicht so sagen. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass es nicht meine erste Auslandserfahrung ist. Wahrscheinlich würde es mich sonst stärker verändern, trotzdem ist es aber eine tolle Erfahrung und ich bin froh, sie machen zu dürfen.
© Anna Klostermann
Hat sich euer Blickwinkel auf manche Dinge geändert?
Thekla: Ich bekomme schon einen anderen Blick auf manche Dinge. Ich lebe mit einer Georgierin und einer Amerikanerin mit mexikanischen Wurzeln zusammen. Alleine dadurch, dass wir verschiedene kulturelle Hintergründe haben und über sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen verfügen, verändert sich meine Wahrnehmung.
Anna: Ich würde auch sagen, dass ich jetzt manche Dinge anders sehe. Vielleicht liegt das an dem internationalen Umfeld, in dem ich jetzt lebe, aber sicher nicht nur. Ich denke aber, je mehr man mit Personen aus verschiedensten Ländern in Kontakt kommt, desto mehr verändert man sich auch selbst.
Thekla: Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich von „wir“ und „uns“ rede, wenn ich über Estland spreche. Ich würde nicht behaupten, dass ich anfange, wie eine Estin zu denken, aber irgendwie werde ich dennoch getriggert. Zum Beispiel, wenn mir jemand sagt, dass Estland in Osteuropa liege. Dann korrigiere ich automatisch, dass Estland Nordeuropa ist. Das wäre mir vor meinem Aufenthalt wahrscheinlich nicht passiert.
Gibt es Dinge die euch, zum Beispiel an den Schulen, sofort aufgefallen sind, weil sie anders als in Deutschland sind?
Anna: Ich finde, dass die Klassen in der Schule alle sehr leise und ruhig sind. Und im Unterricht meldet sich kaum jemand. Manchmal sitzt die Klasse da, schaut dich an, aber niemand sagt etwas. Klar, manchmal ist es auch die Sprachbarriere, aber trotzdem ist es immer eine komische Situation. Aber mittlerweile haben wir uns beide, denke ich gut an diese Dinge gewöhnt oder sie zumindest akzeptiert.
Thekla: Wobei ich schon sagen würde, dass es immer auf die Schule und die Klasse ankommt. Bei uns gibt es schon auch „laute“ Klassen, in denen manchmal alle durcheinander reden. Aber was auch anders ist, ist das Lehrerinnen oder Lehrer hier nicht mit Herr oder Frau angeredet werden, sondern mit õpetaja und dem Vornamen.
Gibt es eine Erfahrung, die ihr hier gemacht habt, die euch in Bezug auf das Thema Kulturaustausch besonders in Erinnerung geblieben ist?
Thekla: Der „Internationaler Lehrertag“. Das war eine neue Erfahrung für mich, dass Schüler die Arbeit Ihrer Lehrkräfte würdigen. An diesem Tag unterrichten Zwölftklässlerinnen und Zwölftklässler alle anderen Klassenstufen und Fünftklässlerinnen und Fünftklässler unterrichten zum Beispiel höhere Klassenstufen. Es gibt den ganzen Tag über Spiele und größere Feierlichkeiten in der Aula mit Schüleraufführungen für die Lehrerinnen und Lehrer. Das war wirklich eine coole Sache! Und etwas, das ich aus Deutschland nicht kenne.
Anna: Oder die „Fuchs-Woche“. Das ist eine Art Motto-Woche, bei der die Zwölftklässlerinnen und Zwölftklässler entscheiden können, als was sich die Zehntklässlerinnen und Zehntklässler verkleiden sollen. Das ist schon komisch, wenn man vor einer Klasse steht und die Jungs sitzen zum Beispiel in Kleidern vor einem. Zusätzlich gibt es Aufgaben, welche die Verkleideten erledigen müssen. Es wurden zum Beispiel Schriftzüge mit Anweisungen im Gang aufgeklebt und es war schon witzig, alle Zehntklässlerinnen und Zehntklässler dabei zu beobachten, wie sie sich im Gang drehen oder Kniebeuge machen müssen.
Gibt es Dinge, die für euch immer noch „unscharf“ sind?
Thekla: Manchmal gibt es schon Dinge in der Schule, die ich verwirrend finde. Bald wird zum Beispiel ein schulinterner „Flaggentag“ gefeiert. Da wird im Estnisch-Unterricht zum Beispiel die Geschichte der Flagge Estlands und Deutschlands behandelt, es werden Gedichte geschrieben, die Türen dekoriert und es gibt eine Veranstaltung in der Aula. Ich habe das Gefühl, solche „Festtage“ an den Schulen gibt es hier viel mehr, als zum Beispiel bei uns in Deutschland.
Anna: Etwas, das zum Beispiel auch schwierig ist, ist mit Estinnen und Esten außerhalb der Arbeit in Kontakt zu kommen. Zwar sind alle sehr freundlich und hilfsbereit, um jemanden aber wirklich kennenzulernen, braucht es aber sehr viel Zeit. Es dauert sicher länger, als in vielen anderen Ländern. Aber wir haben ja noch ein paar Monate Zeit.
Das Interview führte Laura Gräf.